„Ich sehe die ganze Welt!“

Wenn man nur wenige Wünsche und Ängste hat, wird das ganze Leben zum Luxus. Heute war ich an einem Ort im Wald, wo sich mittwochs die Kinder und Kindergärtnerinnen eines Kindergartens treffen. Sie machen Feuer, braten Würstchen, sammeln Blumen, schaukeln, klettern die Hänge rauf und runter und schnitzen mit ihren Taschenmessern. Heute hatten drei Mädchen für einen goldgrünen Käfer, den sie „Glitzi“ getauft hatten aus Steinen, Stöcken, Blättern und Blumen eine ganze Welt gebaut. Und sie halfen Glitzi dabei diese Welt zu erkunden, indem sie ihn behutsam, mal hier und mal dort hin setzten. Am Ende ließen sie Glitzi wieder frei und dann ist Glitzi verloren gegangen, oder sogar gestorben (?) und eines der Mädchen schluchzte sehr, sehr lang.

Ich hatte ein ähnliches Erlebnis, als ich sieben war. Ich hatte eine Smaragdeidechse gefangen. Meine Mutter gab mir eine Dose aus Plexiglas. Darin baute ich der Eidechse eine Wohnung aus Steinen, Hölzern, Gräsern und Blumen und spielte den ganzen Nachmittag mit ihr. Sie war atemberaubend schön. Sie schillerte in blitzendem Hellgrün und leuchtendem Dunkelgrün und ihr Schlund glänzte Rosa, Magenta und Violett. Sie war ein wirklich attraktives und erregendes Lebewesen, unglaublich lebhaft, schnell und dramatisch.
Abends trug ich sie zu einem Holzstapel auf einer Wiese, um sie frei zu lassen. Ich nahm sie ganz vorsichtig, aber sie entglitt mir und stürzte in einen dunklen, tiefen Spalt zwischen den Hölzern. Damit war klar, dass ich nichts mehr für sie tun konnte und ich war äußerst besorgt, als ich nach Haus lief. Bald darauf musste ich zu Bett und da fiel mir ein, dass ein Kamerad bei dem Holzstapel einen Marder gesehen hatte. Meine Sorge um die Smaragdeidechse steigerte sich ins Unermessliche. Was, wenn der Marder sie fraß?
Ich fühlte mich schuldig und hilflos. Meine Eltern versuchten vergeblich, mich zu trösten. Ich sah immer wieder, wie die Eidechse in die Dunkelheit fiel und fühlte mich, als ob ich mit ihr fiel und als sei dies ein endgültiger Sturz in die Gefahr und Ungeborgenheit dieser Welt. Heute kann ich darüber etwas lächeln, aber damals schluchzte auch ich sehr, sehr lang.

Unsere Beziehung zum Universum verwandelt sich mit jedem Atemzug und manchmal wird das sehr deutlich, z. B. in dem Moment, wo wir es wagen, wieder zu lieben! Eine Art, die Beziehung zwischen Individuum und Universum zu vergegenwärtigen, besteht darin, Mandalas zu erschaffen und zu betrachten. Die Tibeter nennen das Mandala Kilkor, das bedeutet „Zentrum und Umkreis“ und in meiner Sichtweise symbolisieren das Zentrum das Individuum und der Umkreis das Universum, das vom Individuum erfahren wird. Ich wollte in meiner Arbeit mit dem Mandala den Aspekt der Verwandlung hervorheben, also machte ich 120 Mandala-Collagen als Zyklus, in dem das letzte Mandala in das erste mündet. Ihr könnt Euch das hier anschauen, klickt einfach auf den „Mandalafilm“ links auf meiner Seite.

Heute war ich also wieder mal bei den Kindern im Wald und manchmal spielen wir folgendes Spiel: Die Kinder wissen, dass mein Namensgedächtnis nicht so gut ist. Ich bitte sie immer wieder, mir ihre Namen zu sagen. Und sie sagen mir ihre Namen, laufen dann weg, kommen kurz darauf wieder zurück und fragen mich: „Und – wie heiße ich?“ Manchmal weiß ich es, manchmal nicht. Aber heute gab es einen super coolen Moment, wo ich die Namen von allen sieben Kindern, die vor mir standen aufsagen konnte: „Mario, Günther, Rolf, Siegfried, Julius, Paul und Lasse – Klasse!“ Dann haben wir alle gelacht und sie haben angefangen mit Wortreihen wie: „klasse Grimasse, Lasse!“ usw. herum zu spielen. Später saßen Mario, der in sich versunken seine Bratwürstchen aß und ich alleine auf einer Bank und ich fühlte: „Ah wie schön, all diese Kinder sind noch vollkommen mit der Essenz identisch!“ Und in genau dem Moment hob Mario seinen Kopf und sagte zu mir: „Ich sehe die ganze Welt!“

Habts Alle Gut!

Vincento

PS: Dieser Text wird auch in dem Magazin „Lebens(t)räume“ von Wolfgang Maiworm publiziert.

Hier findet Ihr seine Seite:

http://www.lebens-t-raeume.de/

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